
Stefan Haack ist der Macher hinter der Seite chessmail.de. „Entspannt Schach spielen“ lautet dort das Motto. Welche Idee verbirgt sich dahinter? Michael Busse von den Chess Tigers hat nachgefragt.
1. Hallo Stefan, du betreibst die Plattform chessmail.de. Welche konkreten Angebote gibt es dort für die Schachfans?
Hallo Michael, vielen Dank für das Interview! Ich freue mich, etwas über mein Herzensprojekt chessmail erzählen zu können. chessmail hat im Jahre 2000 als Projekt von zwei Informatik-Studenten angefangen. Wir wollten eigentlich nur ein kleines Programm schreiben, um miteinander Schach spielen zu können. In den nächsten Jahren haben wir dann noch einen Login hinzu programmiert und sind dann 2003 einfach online gegangen. Damals war chessmail noch ganz reduziert. Es gab nur das Fernschach-Spielbrett ohne Zeitbeschränkung und eine rudimentäre Nutzerverwaltung, das wars. Der Name „chessmail“ kam ganz logisch, weil es ja von Anfang an um Fernschach, die Internet-Variante von Briefschach ging.
Und jetzt gibt es chessmail seit fast 25 Jahren und es hat so viele Funktionen, dass hier Details den Rahmen sprengen würden. Kommunikation war und ist bei chessmail ein ganz zentraler Punkt. Briefe waren ja auch schon immer primär ein Kommunikationsmittel, und das versuche ich auch heutzutage mit chessmail zu transportieren. Wir haben ein lebendiges Forum, mit verschiedenen Themenbereichen, von Smalltalk über Schachaufgaben und kommentierten Spielen, die im Forum von Mitgliedern publiziert werden können. Spieler können Clubs in chessmail gründen und darüber Turniere veranstalten, vollautomatisch oder halbautomatisch mit beliebigen Modi. Jeder Club hat ein eigenes clubinternes Forum und eine eigene Rangliste. Private Nachrichten lassen sich natürlich auch übermitteln, und da es um Briefschach geht, kann man mit jedem Schachzug auch eine Nachricht an den Mitspieler senden.
Zum Fernschach kam dann später noch ein Live-Schach Bereich hinzu, in dem Schnellschach gespielt werden kann und der sich zunehmender Beliebtheit erfreut. In der Live-Schach Lobby kann man mit Schachfreuden auch direkt chatten und live zuschauen, wie andere grade spielen.
Dann gibt es noch den Schachwelt-Bereich, in dem kleine Zusatzspiele und Tools zu finden sind, die mit Schach zu tun haben. Dort gibt es zum Beispiel einen online Schachcomputer, einen Stellungseditor mit dem man die Schachaufgaben für das Forum oder auch ungewöhnliche Startpositionen für Spiele aufbauen kann. Täglich gibt es fünf neue „Schachaufgaben des Tages“ von einfach bis herausfordernd, wir haben eine Schachzitate-Datenbank mit hunderten von Sprüchen und Schachweisheiten. Ich rate, schaut einfach mal vorbei! Es gibt so einiges auf chessmail zu entdecken, was das Herz von Schachfans höher schlagen lässt.
Der Schachwelt-Bereich auf chessmail
2. Als ich neulich auf der Seite war, konnte ich sehen, dass aktuell 600 Mitglieder online waren. Das ist eine beachtliche Zahl. Wie groß ist deine Community?
Ja, das ist schon bemerkenswert. Wir erleben momentan einen Schach-Boom. Ich vermute, die Serie „Damengambit“ und ja, auch die Corona-Krise, so schlimm sie war, hat den Schach-Servern geholfen. Schach hat wieder einen frischen Charakter bekommen, auch durch Carlsen selbst, der weiß, wie man Social Media nutzt und durch andere Schach- Influencer die Shorts, Reels und YouTube Videos machen. Nicht zuletzt durch euch, die Chess Tigers mit Schachgeflüster, und eurer gut besuchten Facebook Gruppe, ist Schach inzwischen wieder cool und erreicht eine breite Öffentlichkeit. Auch bei chessmail spielen inzwischen ein paar tausend aktive Mitglieder, Tendenz steigend.
3. Man hat den Eindruck, dass es auf deiner Seite etwas unaufgeregter und entschleunigter zugeht. Fernschach statt Bullet – ist das deine Strategie?
Ja, richtig. Ich mag tatsächlich selbst Fernschach lieber, weil man da in Ruhe über jeden Zug nachdenken kann. Wenn man mag, wird jeder Zug zu einer Schachaufgabe, und ein Schachspiel kostet nur dann die Aufmerksamkeit, wenn man es selbst möchte und zulässt. Die Spiele existieren nebenher und man zieht, wenn man Zeit hat.
chessmail ist auf Fernschach optimiert, und Live-Schach kann man bei uns auch spielen. Das ist in meinem Empfinden genau umgekehrt wie bei den großen internationalen Servern. Diese Optimierung zeigt sich in den Features des Spielbrettes. Man kann bei chessmail im Fernschach-Bereich zum Beispiel komfortabel Eventualzugfolgen speichern, und es gibt ein Analysebrett, auf dem man mögliche Züge in Ruhe ausprobieren kann, bevor man den besten Zug absendet. Es ist ein schöner Weg, sich mal etwas intensiver und in Ruhe mit verschiedenen Strategien und Möglichkeiten einer Stellung zu befassen. Ich würde mal behaupten, Schnellschach und Fernschach sind zwei grundverschiedene Spiele, und daher gibt es in chessmail dafür separate Bereiche mit unterschiedlichen Schachbrettern und Tools.
4. Viele Spieler loben die freundliche, konstruktive Stimmung auf chessmail. Was tust du konkret dafür – oder ergibt sich das aus dem Format selbst?
Das freut mich zu hören! Es ist durchaus möglich, dass Fernschach Spieler die ruhigeren Spieler sind. Ein freundliches, respektvolles Miteinander ist aber auch etwas, das mir persönlich wichtig ist. chessmails Motto ist nicht umsonst „Entspannt Schach spielen“. Ein Spiel sollte genau das sein, entspannend. Eine Flucht aus dem Alltag, eine sportliche, gesunde Auszeit.
Bei der Planung von neuen Features beziehe ich gerne die chessmail Mitglieder mit ein und frage auch mal im Forum, was für neue Funktionen gewünscht werden. So ist chessmail ein gemeinsames Produkt, was genau die Dinge verwirklicht, welche die Spieler gerne nutzen und haben möchten.
5. Wie gehst du mit dem Thema Cheating um? Gerade bei so langen Bedenkzeiten ist ja die Versuchung groß, sich Hilfe zu holen – aber du scheinst stark auf Vertrauen zu setzen.
Dieses Thema ist beim online-Schach natürlich ein Dauerbrenner. Ich habe viel darüber nachgedacht, wie man Cheating verhindern kann und bin zu der Ansicht gekommen, dass technische Lösungen nicht unbedingt der beste Weg sind, denn technische Lösungen sind immer eine Eskalation. Der Server verbessert die Erkennungsmethoden, die Cheater passen daraufhin ihre Methoden an, und so weiter und so fort.
Hier geht chessmail einen anderen Weg. Und zwar über soziale Steuerungsmechanismen. Da wären die chessmail Clubs zu nennen, in denen die vertrauensvolle Atmosphäre von kleineren Gemeinschaften herrscht, wo so gut wie kein Cheating passiert, da der Spaß und die Gemeinschaft im Vordergrund steht. Man kann bei chessmail andere Spieler als Schachfreunde hinzufügen, so wie man das auch von Facebook kennt. Wenn man dann eine offene Einladung erstellt, kann man diese nur für Schachfreunde und Clubmitglieder sichtbar machen. So kann man sich seine eigene kleine Schach-Community schaffen, der man vertraut.
Ausserdem kann man Spieler, gegen die man ungerne spielen möchte auf eine Ignoriert-Liste setzen. Cheater werden so ausgeschlossen und spielen dann im besten Fall nur noch gegen Cheater. Das heisst, dann spielen die Engines gegeneinander und die Cheater sind deren Eingabemechanismen. Ehrlich, ich kann nicht wirklich verstehen, warum Menschen so etwas tun.
6. Wo siehst du chessmail im größeren Schach-Ökosystem? Es gibt internationale Plattformen wie chess.com oder lichess, daneben auch deutschsprachige Angebote wie schacharena oder schachfeld. Wo genau liegt die Nische, die chessmail besetzt?
Ich denke, alle diese Plattformen haben ihre Existenzberechtigung. Auf lichess kann man gut schnell mal anonym oder mit Login ein paar Bullet-Spiele zocken und bekommt in Sekundenschnelle immer einen Spielpartner. Für Schnellschach ist lichess hervorragend. chess.com ist eine etablierte, sehr große Platform, auf der viele Großmeister spielen. Sie sponsern direkt Schach Influencer, um Inhalte auf Insta, YouTube und Facebook zu generieren und bereichern damit alle Schachspieler und sorgen auch für einen frischen Wind in der Schach Community. Auch die kleinen deutschsprachigen Angebote haben den Charme der Gemeinschaft, in der man sich schon lange kennt.
Inklusion, also Barrierefreiheit ist mir bei chessmail sehr wichtig. Dabei arbeiten wir mit einem blinden Berater zusammen, der selbst bei chessmail spielt. Das heisst chessmail kann man auch mit einem Screenreader spielen. Das ist ein echter Vorteil, den Fernschach bietet. In der Sehfähigkeit benachteiligte Menschen werden bei dieser Schachvariante nicht benachteiligt, da es nicht darauf ankommt, möglichst schnell zu ziehen.
Die Nutzbarkeit und Einfachheit der Benutzeroberfläche ist für mich ein Kernpunkt von chessmail. Ich habe schon oft gehört, dass die großen Server mit ihrem Funktionsumfang und den Millionen Mitgliedern verwirrend und unübersichtlich wirken können. Ich achte darauf, das System nicht mit „Featuritis“ zu überladen. Jeder zusätzliche Button, jede neue Funktion verwirrt ja auch, dessen muss man sich bewusst sein. chessmail soll der gemütliche Schach-Treffpunkt für alle sein, die Schach lieben, aber nicht unbedingt die Hektik der großen Plattformen suchen. Bei uns ist es weniger anonym, man kennt sich. Da der Hauptteil der Nutzer deutschsprachig ist, fühlt man sich vielleicht auch eher zuhause.
7. Betreibst du chessmail ganz allein? Wie schaffst du das zeitlich und technisch?
Noch bis vor kurzem habe ich chessmail tatsächlich alleine betrieben. Es gab allerdings schon immer engagierte chessmail Mitglieder, die ehrenamtlich mitgemacht haben. Zum Beispiel durch Hilfe bei der Moderation oder Beratung bei Schachthemen. Regelmäßig organisieren die Club-Admins das große chessmail Club-Liga Turnier vollkommen eigenständig. Auch bei der Software-Entwicklung hatte ich schon einige Hilfe von Mitgliedern. Die meisten chessmail Komponenten sind als OpenSource veröffentlicht und dadurch helfen Programmierer auf der ganzen Welt mit. Diese OpenSource Komponenten, wie zum Beispiel das chessmail Spielbrett „cm-chessboard“ kommen in vielen anderen Seiten und Apps zum Einsatz und ich lerne darüber Menschen in der ganzen Welt kennen.
Inzwischen engagiere ich aber auch ein Programmierer-Team aus Übersee, dass für chessmail auf Honorarbasis Weiterentwicklungen umsetzt so dass ich mich immer mehr auf die Orchestrierung des ganzen und das Marketing konzentrieren kann.
Es ist natürlich manchmal anstrengend und manchmal auch nicht besonders ertragreich, aber chessmail ist einfach das, was ich machen möchte. Es ist das schönste, wenn man seine eigenen Ideen umsetzen kann und damit Schachfreunden auch noch eine Freude macht. chessmail ist eins der sinnvollsten Projekte, die ich je umgesetzt habe. Es bringt Menschen zusammen und das ist es ja, was das Internet oder Technik im Allgemeinen im besten Fall tun kann.
8. Du hast mit google-Werbung experimentiert, diese aber inzwischen abgeschaltet. Wie waren die Erfahrungen, und wie ersetzt du die fehlenden Werbeeinahmen?
Als ich chessmail im Jahre 2003 gegründet habe, war ich einer der ersten in Deutschland, die Google AdSense Werbung eingesetzt haben. Ich bekam damals, wie in den USA üblich, die Werbeeinnahmen per Post als Scheck aus den USA zugesandt. Das waren dann 50 Dollar Schecks, und die Einlösung hat 10 Euro Gebühren bei der Postbank gekostet. Google hat sich inzwischen verändert und damit auch die gesamte Online-Werbebranche. Tracking und Nutzeranalysen wurden immer mehr genutzt, um die Werbung kundenspezifisch auszuspielen. Cookie-Banner wurden Pflicht, wenn man da mitmachen wollte. Diese ganze Werbesache wurde immer komplexer, technisch sowie rechtlich. Gleichzeitig wurde die Werbung qualitativ immer schlechter, und auch die Einnahmen sanken. Das Faß zum überlaufen brachte für mich ein fehlerhafter Cookie-Banner, der zu E-Mails und auch Anrufen von verzweifelten Nutzern bei mir führte, die nicht mehr auf chessmail kamen. Da entschied ich, vollständig auf Tracking-Cookies und Werbung, die solche benötigt, zu verzichten.
Ich bin sehr froh über diesen Schritt und es zeichnet sich jetzt schon ab, dass das auf lange Sicht die richtige Entscheidung war, da die Nutzerzahlen von chessmail momentan steigen. Ich schrieb dann direkt deutsche Schach Shops an und konnte mit ChessBase auch schon einen der größten als Werbepartner gewinnen. Ein weiteres Standbein der Finanzierung ist die Premium-Mitgliedschaft, die erlaubt, chessmail mit einem geringen Beitrag von 2 Euro im Monat zu unterstützen. Premium-Mitglieder haben erweiterte Funktionen, mehr Spiele parallel und können an mehr Turnieren gleichzeitig teilnehmen.
9. Chessmail hat ja auch ein Schachforum. In Internetforen geht es allgemein manchmal recht unfreundlich zu. Wie ist das bei chessmail, und was hast du in all den Jahren über Kommunikation im digitalen Raum gelernt?
In den Anfangstagen dachte ich noch, eine Moderation vom Forum wäre überflüssig. Ich wurde dann, als chessmail größer wurde, eines besseren belehrt. Es ist ein bisschen schade, aber die Anonymität des Internets verleitet offensichtlich manche tatsächlich dazu, aggressiv oder unfreundlich zu agieren. Das ist natürlich bei chessmail in einem ganz anderen Rahmen, als auf den großen Social-Media Plattformen, aber auch spürbar passiert. Ein freundliches Miteinander ist mir persönlich wichtig.
Da es am Ende auch chessmail schadet, wenn bei der Kommunikation im Forum die gute Kinderstube vergessen wird, agiere ich an der Stelle sehr konservativ, auch wenn ich grundsätzlich eher progressiv denke. Ich habe gelernt, dass es ohne klare Regeln und deren konsequenter Umsetzung leider nicht geht.
Screenshot des Chessmail Forum
10. Spielst du selbst noch aktiv in einem Schachverein oder bist du ausschließlich online unterwegs?
Ich spiele hier manchmal beim MTV Eintracht Celle mit, bin aber selbst kein Mitglied. Bei dem chessmail-Treffen hier in Celle vor drei Jahren hat der MTV das Material gesponsert und sich um die Durchführung des Turniers gekümmert. Vielen Dank and der Stelle noch mal an Knut und die weiteren freundlich Helfer vom MTV. Ich bin ursprünglich aus Berlin, und dort ist unser Familien-Verein der TSVM, in dem schon mein Urgroßvater Fußball gespielt hat. Der TSVM Berlin ist auch in chessmail einer der größten virtuellen Clubs. Da ich am liebsten Fernschach spiele, und in Vereinen vor allem Blitzschach gespielt wird, bin ich eher online unterwegs.
11. Was wünschst du dir für die Zukunft von chessmail – als Plattform, aber auch als Ort der Schachkultur?
Ich würde mir wünschen, dass chessmail weiter wächst, ohne seine Seele zu verlieren und dass es für alle zugänglich bleibt, egal ob Anfänger oder erfahrener Spieler. Gut für chessmail wäre, mehr Spieler aus aller Welt zu haben, um die Community noch vielfältiger zu machen, das ohne den Fokus auf die persönliche, familiäre Atmosphäre zu verlieren, die chessmail ausmacht. Mal sehen, ob das zu schaffen ist.
Ich wünsche also einerseits, dass chessmail die nette freundliche Plattform bleibt, die es ist und gleichzeitig wünsche ich mir, dass chessmail so groß wird, dass es als meine Haupt-Einnahmequelle dient und ich dann mit einem Wohnmobil durch Europa, vielleicht sogar die Welt reisen, unterwegs arbeiten und überall mit den chessmail Mitgliedern Schach spielen kann.
Genau das möchte ich übrigens diesen Sommer schon mal ausprobieren, indem ich auf einer Promotion-Tour mit einem Wohnwagen durch Deutschland, Österreich und die Schweiz reise und dabei chessmail Mitglieder treffe, um mit ihnen am echten Brett Schach zu spielen.
So soll es aussehen: das chessmail.de-Wohnmobil
12. Kannst du uns noch etwas über dich als Person außerhalb des Schachs verraten?
Ich lerne immer mehr, dass Wünsche und Träume, an die man glaubt, das wichtigste sind. Und wenn man wirklich an sie glaubt, dann gehen sie auch in Erfüllung.
Vielen Dank für deine guten Fragen! Ich hoffe, dass ich einen guten Überblick über chessmail geben konnte und lade alle Leser und Leserinnen gerne zu chessmail ein. Schaut es euch mal an und geniesst entspanntes Schach online.