
Photo: FIDE
Weitgehend unbeachtet von der Schachöffentlichkeit findet derzeit die Schachweltmeisterschaft der Frauen statt, in China natürlich, und zwar in der Millionenstadt Chongqing, weil sowohl die Weltmeisterin GM Ju Wenjun als auch ihre Herausforderin GM Tan Zhongyi Chinesinnen sind. Werfen wir zur Einordnung der Spielstärke kurz einen Blick auf Jus Eloprofil.

In ihrem Profil stehen 2561 Elo bei Weltmeisterin GM Ju Wenjun – das ist eine stolze Zahl! Sie ist somit Nummer zwei der Frauenweltrangliste hinter der besten (aktiven) Spielerin der Welt GM Hou Yifan (2633), die sich schon lange aus dem WM-Zyklus zurückgezogen hat
Ju Wenjun ist seit 2018 Schachweltmeisterin der Frauen. Sie gewann den Titel erstmals im Mai 2018 gegen Tan Zhongyi, gegen die sie nun erneut antritt.
Nun dieselbe Recherche für ihre Herausforderin GM Tan, Zhongyi.

Wie man sieht, hatte sie (vor dem Match!) nur 6 Punkte weniger als die Amtsinhaberin – das Match versprach somit eng zu werden. Bei einem Wettkampf, der auf 12 Partien ausgelegt ist, wird man hier wohl von einem äußerst knappen Endergebnis ausgehen können. Vielleicht 6,5 zu 5,5?
Weit gefehlt! Hier die nackte Wahrheit. Der WM-Kampf ist bereits nach nur 8 von 12 Partien praktisch entschieden, wie aus folgendem Stand vom Wettkampftag 14. April hervorgeht:
Unglaublich, was ist das denn? Weltmeisterin Ju hat auf dem Niveau vier Partien hintereinander gewonnen? In einem Start-Ziel-Lauf erzielte sie völlig überraschend sechs Punkte aus acht Partien. Geht hier noch alles mit rechten Dingen zu? Oder ist Tan total zusammengebrochen? Ist sie mitten im Match erkrankt? Oder war ihre Vorbereitung schlecht?
Zu Recht schreibt Chessbase: Selten verlief eine Frauen-Weltmeisterschaft so einseitig wie diese, obwohl hier mit Ju Wenjun und Tan Zhonqui die Zweite und die Dritte der Frauenweltmeisterschaft aufeinandertreffen.
Man darf Ju wohl jetzt schon zum neuen WM-Titel gratulieren, wenn auch mit dem faden Beigeschmack, dass dieses Match definitiv kein Höhepunkt der Schachhistorie war. Dabei hat sich Tan im Kandidatenturnier in Toronto im Mai 2024 völlig regulär und mit großem Abstand vor der Konkurrenz durchgesetzt.

Doch lassen wir das Spekulieren über die Ursachen sein, und schauen lieber auf die neue Weltrangliste. Diese entnehmen wir der verdienstvollen Seite Live Chess Ratings, in der die Turniere schon vor der monatlichen Elo-Auswertung der FIDE ausgewertet sind, und zwar tagtäglich.
Hier zeigt sich, dass Ju durch ihre Siegesserie fast 20 Elopunkte gewonnen hat und nun bei 2580 steht. Bisher haben übrigens nur zwei Frauen in der Geschichte des Schachs die stolze Barriere von Elo 2600 überwunden – die legendäre GM Judit Polgar natürlich und eben GM Hou Yifan.
Selbst Ex-Weltmeisterin GM Susan Polgar, die seit 20 Jahren inaktiv ist, steht im Vergleich „nur“ bei 2577 Elo. Allerdings hat sie zu ihrer aktiven Zeit auch viel an Männerturnieren teilgenommen, was für sie spricht, und die Elo-Zahl ist 20 Jahre alt, lässt sich also mit den heutigen Elo-Zahlen, die deflationär sind, nicht mehr ganz vergleichen. Als sie nach Amerika zog und eine Schachschule gegründet hat, zog sie sich vom aktiven Schach zurück, und wirkt seither als Schachpromoterin. Ob sie in einem Match gegen Ju bestehen könnte?
Nun kann man sich wohl die Frage stellen: wer ist die drittbeste Frau aller Zeiten hinter Judit Polgar und Hou Yifan?
Susan Polgar, Ju Wenjun oder vielleicht sogar die im zweiten Weltkrieg bei einem Bombenangriff verstorbene Vera Menchik, wie neulich zu lesen war.
Hier der Link auf einen Beitrag zu ihrem Gedenken.
Zum Abschluss dieses Beitrags sei noch auf ein Interview mit Ex-WM Susan Polgar auf Chessbase verwiesen, in dem sie auch über ihre Aktivitäten in den Vereinigten Staaten spricht.
Nachtrag zu diesem Artikel: tatsächlich haben es sechs Frauen geschafft, über 2600 Elo zu kommen, wie sich aus nachfolgender Liste ergibt:
Wir bitten um Entschuldigung für die falsche Information.
Die heutigen Elo – Zahlen sind deflationär??
Das ist inzwischen eigentlich Allgemeingut.
Naja, das betraf/betrifft ja vor allem die ELO-Zahlen unter 2000. Im Artikel auf der Seite des DSB zur ELO-Anhebung letztes Jahr hieß es zudem, dass „die Deflation recht schwer nachzuweisen“ ist: https://www.schachbund.de/news/anhebung-der-fide-elo-kleiner-2000-am-1-maerz-2024.html
Die Elozahlen unter 2000 wurden doch schon über ein Geschenk der FIDE angehoben. Meiner Meinung nach betrifft die Deflation eher die Spieler über 2000 Elo.
Die Aussage „Bisher haben übrigens nur zwei Frauen in der Geschichte des Schachs die stolze Barriere von Elo 2600 überwunden“ ist nicht korrekt – neben den genannten Judit Polgar und Hou Yifan gelang dies auch Ju Wenjun (Elo 2604 im März 2017 und exakt 2600 im August 2019), Aleksandra Goryachkina (war von August 2021 bis Mai 2022 durchgehend über 2600, allerdings ohne Auswertung von Januar bis Mai 2022), Humpy Koneru (war von Oktober 2007 bis Juli 2009, erneut von November 2009 bis Juli 2010, wiederum von November 2010 bis November 2011, noch einmal Oktober bis Dezember 2012 und letztmalig von Juli 2013 bis Juli 2014 (allerdings ohne Auswertung von Februar bis Juli 2014) über 2600) und Anna Muzychuk (erreichte im Juli 2012 Elo 2606, hatte im August und September 2012 keine Auswertung und fiel im Oktober 2012 wieder unter 2600).
Vielen Dank für die Korrektur. Ich hätte nicht gedacht, dass es so viele waren!
Dankeschön, habe es im Artikel korrigiert.
Vor zuletzt etwas Deflation gab es dabei zuvor eine relativ kräftige Inflation – ein anderer Chessbase-Artikel https://de.chessbase.com/post/die-elo-inflation-verstehen suggeriert im Zeitraum 1985-2010. Ich bin fast ebenso „nicht mehr jung“ wie Gerald Hertneck und erinnere mich noch an Zeiten, als Spieler mit Elo 2600+ als Super-Großmeister bezeichnet wurden.
„Selten verlief eine Frauen-Weltmeisterschaft so einseitig wie diese“ – Chessbase-Autor Andre Schulz (auch schon lange dabei) hat da vielleicht ein schlechtes Langzeitgedächtnis und hat nicht nachgeschaut, Wikipedia weiß alles.
Zwar waren Ju Wenjuns Matches zuvor immer knapp, aber davor:
2016 Hou Yifan – Mariya Muzychuk 6-3 („etwas knapper“ als nun 6,5-2,5)
2013 Hou Yifan – Ushenina 5,5-1,5
2011 Hou Yifan – Koneru 5,5-2,5 (Koneru war nach Elo leicht favorisiert)
Vor Hou Yifan und bevor der Titel einige Zeit im KO-Format vergeben wurde:
1996 Susan Polgar – Xie Jun 8,5-4,5
1993 Xie Jun – Ioseliani 8,5-2,5
Ungewöhnlich bis „das gab es noch nie“ waren vier Siege nacheinander, zuvor schien es das erwartete enge Match zwischen zwei nominell gleichwertigen Spielerinnen.
Danke für den Link auf den Chessbase Artikel!