Der frühere Schachweltmeister Vladimir Kramnik hat am 30. Dezember 2025 nach eigenen Angaben formelle rechtliche Schritte gegen den Weltschachverband FIDE eingeleitet. Das Verfahren wird nach Schweizer Recht vor dem zuständigen Zivilgericht in Lausanne geführt, dem Sitz der FIDE. Dies geht aus einem von Kramnik veröffentlichten offiziellen Statement hervor.
Nach Schweizer Zivilprozessrecht ist dem Verfahren zunächst eine obligatorische Vorphase vorgeschaltet, die in der Regel zwei bis drei Monate dauert. In dieser Zeit wird geprüft, ob und in welcher Form das Verfahren in eine Hauptverhandlung übergeht. Bereits während dieser Phase kann das Gericht einzelne Zwischenentscheidungen treffen; ihr Hauptzweck besteht jedoch darin, die Grundlage für das eigentliche Verfahren zu schaffen.
Die konkreten rechtlichen Anspruchsgrundlagen sowie die Höhe einer möglichen finanziellen Forderung gegen die FIDE sind laut Kramnik derzeit noch nicht abschließend festgelegt. Diese Punkte sollen von seinem juristischen Team unmittelbar vor Einreichung der Hauptklage spezifiziert werden.
Parallel dazu wurde nach Kramniks Angaben am selben Tag eine formelle Anordnung zur Beweissicherung persönlich an den Hauptsitz der FIDE übergeben. Ziel dieser Maßnahme ist es, sicherzustellen, dass sämtliche potenziell verfahrensrelevanten Unterlagen – darunter Dokumente, Korrespondenz und elektronische Daten – erhalten bleiben und nicht verändert oder gelöscht werden.
Vorgeschichte des Konflikts
Der rechtliche Schritt steht vor dem Hintergrund eines seit längerem schwelenden Konflikts zwischen Kramnik und dem Weltschachverband. In den vergangenen Jahren hatte Kramnik wiederholt öffentlich Zweifel an der Integrität bestimmter Online-Schachpartien und -ergebnisse geäußert. Diese Aussagen lösten innerhalb der internationalen Schachgemeinschaft eine intensive und teils kontroverse Debatte aus.
Im November 2025 leitete die Ethik- und Disziplinarkommission der FIDE schließlich ein formelles Verfahren gegen Kramnik ein. Gegenstand des Verfahrens ist nach Angaben des Verbandes ein über einen längeren Zeitraum andauerndes Verhalten, das als belästigend wahrgenommen worden sei und die Würde von Spielern beeinträchtigt habe. Das Verfahren ist bislang nicht abgeschlossen; Kramnik weist die Vorwürfe zurück.
Die öffentliche Diskussion um Cheating-Vorwürfe erhielt zusätzliche Aufmerksamkeit, als der US-amerikanische Großmeister Daniel Naroditsky im Jahr 2025 im Alter von 29 Jahren unerwartet verstarb. In einem seiner letzten öffentlichen Auftritte hatte Naroditsky unter anderem über die psychische Belastung gesprochen, die mit öffentlichen Anschuldigungen und der Arbeit im professionellen Schach verbunden sein könne. Nach seinem Tod wurde innerhalb der Schachwelt verstärkt über Verantwortung, Umgangston und mögliche Auswirkungen öffentlicher Vorwürfe diskutiert. Ein direkter rechtlicher Zusammenhang zwischen Naroditskys Tod und einzelnen Äußerungen wurde nicht festgestellt.
Frühere Erfahrungen mit Cheating-Vorwürfen
Kramnik selbst war bereits in der Vergangenheit Ziel von Betrugsvorwürfen. Während des Weltmeisterschaftskampfes 2006 gegen Veselin Topalov kam es zum sogenannten „Toiletgate“-Vorfall, bei dem Kramniks häufige Toilettengänge öffentlich als möglicher Hinweis auf Betrug interpretiert wurden. Die Vorwürfe konnten nicht belegt werden und wurden später zurückgewiesen. Der Fall gilt bis heute als ein prägendes Beispiel für die Sensibilität und Tragweite unbelegter Cheating-Anschuldigungen im Spitzenschach.
Aktuelle rechtliche Einordnung
Mit der Entscheidung, den Rechtsweg vor einem staatlichen Zivilgericht zu beschreiten, verlagert Kramnik den Konflikt bewusst aus dem sportrechtlichen Bereich in die allgemeine staatliche Gerichtsbarkeit. Während sportrechtliche Streitigkeiten üblicherweise vor den Gremien der FIDE oder dem Internationalen Sportgerichtshof (CAS) verhandelt werden, können Zivilgerichte unter anderem über Schadenersatzansprüche entscheiden und verbindliche Anordnungen zur Beweissicherung treffen.
Wie das Verfahren weiter verläuft und ob es zu einer Hauptverhandlung kommt, ist derzeit offen. Sowohl Kramnik als auch die FIDE haben angekündigt, sich zu einem späteren Zeitpunkt weiter zu äußern.
Verschiebung der Konfliktlinie
Der rechtliche Schritt lässt sich auch als strategische Umkehr der Vorwürfe lesen. Statt sich ausschließlich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob das eigene öffentliche Verhalten Grenzen überschritten hat, richtet sich der Fokus nun auf das Vorgehen der Institution, die dieses Verhalten untersucht – mit der Folge, dass der Beschuldigte die Rolle des Angegriffenen einnimmt.
Zur Person
Vladimir Kramnik wurde im Jahr 2000 Schachweltmeister durch seinen Sieg über Garry Kasparov. Mit seinem WM-Sieg 2006 in Elista gegen Topalov wurden die bis dato getrennten Weltmeistertitel wiedervereinigt. Kramnik beendete seine aktive Profikarriere im Jahr 2019.
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