
Was kann man in Hamburg am Abend wohl unternehmen? Musicals, Hafenrundfahrt, halbfertige Hochhäuser bestaunen?
Nun, auf der Strecke zwischen Hammerbrook, beruflich bedingt, mehr so im Osten der Innenstadtzone gelegen, und Ohlsdorf, schach-historisches Interesse, aber auch ganz andere Geschichte, jedenfalls Richtung Nordosten, liegt der Stadtteil Barmbek. Und nur eine S-Bahn-Haltestelle von Ohlsdorf auf dem Weg zurück ins Hotel entfernt ist der Rübenkamp der Ausstiegspunkt.
Das Ziel hier ist das Barmbeker Schachcafé. Noch nie davon gehört und nur zufällig vor Abreise in den Norden bei einer Kurzrecherche gefunden. Interessant wurde es, als ich vor Ort beim Smalltalk mit Hamburger Kollegen (die kein Schach spielen) auf die Leckereien vor Ort hingewiesen wurde. Ach, Reeperbahn, was bist Du schon dagegen.
Völlig durchnässt, ja, in Hamburg regnet es ab und zu, hat mir keiner vorher gesagt, stieg ich am Rübenkamp aus. Es war schon gegen 21 Uhr.
Beim Verlassen der Station am Treppenaufgang erwartete ich jederzeit, dass Jimmy Doyle mit gezücktem Revolver an mir die Treppe hocheilen würde, so stark erinnerte mich dieser Aufgang an den „Brennpunkt Brooklyn“ aus dem Jahr 1971. Assoziationen gelangten zuvor ins Unterbewusstsein, weil am Büro die Hochbahn vorbeiführte. Wenn auch Beton-Style, und nicht Stahl wie bei Jimmys Jagd auf den „Franzmann“. Jimmy spielte kein Schach, also zurück zum Thema.
Wenn man nicht weiß, wo genau das Barmbeker Schachcafe liegt, läuft man erst mal aus der Station am Rande eines Biergartens auf die naheliegende Hauptstraße und wundert sich, wo hier noch ein Schachcafe sein soll. Dann der prüfende Blick aufs Smartphone und die Erkenntnis, dass nicht alle Schachcafes gleich sind.
Und richtig, der hübsche Biergarten und das alte Bahnhofsgebäude davor ist die gesuchte Lokation. Ein Blick über die anwesenden Gäste bzw deren Tischdekoration ließ am Namen der Gaststätte zweifeln. Keine Schachbretter zu sehen. An der Wand über der Speisenausgabe war ein hübscher Springer mit Kreide an die Tafel gemalt. Klappkisten mit halben Schachbrettern deuteten auf eine Leihmöglichkeit hin. Und doch, an einem Tisch, saßen Michel, der wesentlich Ältere, und Kuddel, der nicht mehr ganz so junge Pendant.
Nun, Michel schraubte in drei Partien, die ich verfolgte, Kuddels Stellungen ordentlich auseinander. Mein Parallelprogramm war dabei jeweils eine Heiße Schokolade vor und nach dem Kaiserschmarrn, den ich auf einer norddeutschen Speisekarte auch eher selten antreffe. Und um es gleich zu spoilern: als lokal anerkannter Experte in Sachen Kaiserschmarrn gebe ich hier eine 8 von 10 möglichen Punkten. Doch zurück zu Michel und Kuddel.
Michel redete nicht viel, kaute sich aber seinen Gegner zurecht, der dem nicht viel entgegenzusetzen hatte. Ab und zu schaute Michel zu mir rüber, wenn die gestellte Falle mal wieder zugeschnappt hatte und lächelte verschmitzt.
Zwischen Partie Zwei und Drei, der Kaiserschmarrn war gerade vertilgt und mit der zweiten Heißen Schokolade gerade veredelt worden, lenkte ich Kuddel mit einem Gespräch ab.
Nun, seit Corona war der Laden hier dicht, was vorher seit den Siebzigern ein Hot Spot für Schachfans vor allem auch am Ende der Abendschichten war. Hier fanden dann wohl die „echten“ Hamburger Meisterschaften statt. Erst vor kurzem, also ein Jahr etwa, hatte man den Neuanfang mit neuem Pächter gewagt. Seitdem sind die Preise hoch gegangen, nun wo nicht, und es kommen weniger Schachspieler zum „over the board“, verdammtes Internet. Nun, auch das kennen wir.
Michel drängt und kann das Gesabbel wohl nicht ertragen. Er drängt schon auf Partie Vier, als ich mich auf dem Weg ins Hotel mache.
Ob ich nochmal hierher komme? Nun, ich werde nicht das letzte Mal in Ohlsdorf gewesen sein. Ich gehe Richtung Ausgang und schaue vorsichtig um die Ecke, bevor ich die Treppe zur S-Bahn heruntersteige. Ist Jimmy Doyle schon durchgekommen?