
Das Interview ist toll, ich meine nicht die Fragen, sondern die Antworten! Holger ist ein sensationeller Mensch aus Kiel, lest und genießt!
Hallo Holger, stelle dich bitte kurz vor!
Ich bin Realschullehrer an der Klaus-Groth Gemeinschaftsschule mit Grundschule in Kiel. An dieser Schule arbeite ich als Mathematik- und Physiklehrer bereits seit etwa 25 Jahren.
Die Schule befindet sich in einer sozial herausfordernden Lage, weshalb sie Teil des bundesweiten Startchancen-Programms ist. Dabei handelt es sich um ein großes Bildungsförderungsprogramm von Bund und Ländern in Deutschland mit dem Ziel, die Bildungsgerechtigkeit zu verbessern.
Wie kamst du zum Schach, wie kamst du zum Schulschach?
Meine Eltern waren in der Textilbranche geschäftsleitende Angestellte. Mein Vater leitete ein Geschäft in Brunsbüttel (Dithmarschen in Schleswig-Holstein). Ich habe in meiner Kindheit viel Zeit in diesem Laden verbracht und hatte engen Kontakt zu den Angestellten. Ein Angestellter meiner Eltern hat mir das Schachspielen im Grundschulalter beigebracht. Ich habe dann gerne mit meinem Vater Schach gespielt.
Über viele Jahre habe ich das Spiel aus den Augen verloren, bis mich ein Freund und Kollege vor über 10 Jahren wieder zum Schachspielen animierte. Seit dem spiele ich wieder regelmäßig Onlineschach. Zunächst über Chessmail, später habe ich die Plattform Lichess für mich entdeckt.
Mit dem Schulschach ging es zufällig im Sommer 2016 los. In der letzten Woche vor den Sommerferien sollten die Lehrkräfte unserer Schule Vorhaben anbieten, die dann von den Schülerinnen und Schüler gewählt werden. Eine Kollegin erzählte mir, dass sie Kartenspiele anbieten möchte. Für mich war der Bereich Spiele im Kontext Schule bis dahin nicht denkbar. Ich habe immer naturwissenschaftliche Angebote gemacht. Durch die Kollegin kam ich auf die Idee Schach anzubieten. Ich gebe zu, dass ich es mir einfach machen wollte.
Ich dachte mir, dass kaum jemand Interesse am Schach hätte und der Kurs nicht zustände kommt. In diesem Fall hätte ich einen anderen Kollegen in seinem Vorhaben geholfen. Ich war sehr überrascht, dass sich gleich 20 Kinder für Schach angemeldet haben. Das traf mich völlig unvorbereitet. Ich wusste noch nicht, wo ich das Schachmaterial hernehmen sollte. Ich recherchierte und hatte Glück, dass ich mit bei einem Schachverein in Kiel-Holtenau Material ausleihen durfte.
Außerdem sagte mir ein Vereinsmitglied für zwei Tage seine Unterstützung zu. Das Vorhaben habe ich dann mit 26 Schülerinnen und Schüler durchgeführt, da weitere Kinder aus Kursen, die nicht zustande kamen, aufgeteilt wurden. Ich war mächtig nervös und hinterher sehr begeistert von dem Schachvorhaben.
Unruhige Kinder mit einem ADHS-Hintergrund verhielten sich während des Spielens erstaunlich ruhig und hochkonzentriert. Eine Kollegin, die vorbeischaute, konnte es ebenfalls kaum glauben.
Diese Vorhabenwoche war wohl ein Schlüsselerlebnis für mich. Ich wusste nach dieser Woche, dass ich Schach an der Schule weiterhin nutzen werde.
3. Warum ist Schulschach so wichtig?
Ich habe in den vielen Jahren bis heute erlebt, wie das Schachspielen Kindern geholfen hat mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen. Es hat Schülerinnen und Schüler gegeben, die kaum beachtet wurden und über das Schachspielen mehr Aufmerksamkeit bekamen.
Schülerinnen und Schüler, die bei Kolleginnen und Kollegen als schwierig galten nahmen z.T. eine neue Rolle ein, indem siedurch gutes Schachspielen auffielen.
An unserer Schule haben wir DaZ-Klassen (DaZ = Deutsch als Zweitsprache), die sich aus vielen Kindern mit Fluchterfahrungen zusammensetzen. Schach leistet hier ebenfalls gute Dienste bei der Integration. Wir organisierten zwischen meiner damaligen Klasse und einer DaZ- Klasse einen Schachtag. Wir spielten zusammen Minispiele. Die Kinder nutzten den Googleübersetzer ihrer Handys, um über das gemeinsame Schachspielen in den Austausch zu kommen. Am Ende gab es sogar ein kleines Turnier.
Einige Kinder der DaZ-Klassen finden über das Schachspielen sehr schnell Anschluss in eine neue Gemeinschaft. Während der vielen Schachangebote habe ich Sätze gehört wie -„Ich fühle mich schlau.“ „Schach ist noch besser als Handy“. „Ich liebe Schach.“ – für mich ein klares Zeichen, dass Schach das Selbstwertgefühl steigert und glücklich machen kann.
Beim Schachspielen bringen wir uns gegenseitigen Respekt entgegen. Wir geben uns die Hand, spielen miteinander, fangen oft an, uns für unser Gegenüber zu interessieren, wir kommen in einen regen Austausch und behandeln uns sehr wertschätzend und respektvoll- es spielt plötzlich gar keine große Rolle mehr, wie alt du bist, wo du herkommst und welches Geschlecht du angehörst. In diesen wirren Zeiten tut dies besonders gut. Das Klima unter den schachspielenden Kindern empfinde ich als sehr gut.
Ich erlebe eine sehr große Wertschätzung seitens der Schülerschaft und des Kollegiums. Schach verbessert eindeutig das soziale Klima an der Schule.
Das Schachspielen fördert den Beziehungsaufbau, die Konzentrationsfähigkeit und schult uns im Umgang mit Problemen und Niederlagen. Ich kenne kein Schulfach, bei dem so viele Schülerinnen und Schüler über einen so langen Zeitraum aufmerksam bleiben und so tief Denken wie beim Schach. Schach in Schule wirkt wahre Wunder. Wer es nicht glaubt, den lade ich gerne zu einer Schachstunde ein.
4. Wie viel Zeit nimmt Schach in deinem Leben derzeit ein?
Ich beschäftige mich eigentlich täglich mit Schach. Ich spiele privat gerne täglich ein paar Blitz- oder Schnellschachpartien zur Entspannung. In der Schule gebe ich hier und da eine Schachstunde, mal in einer zweiten, mal in einer fünften Klasse oder auch als Vertretungsangebot und als AG-Angebot. Ich habe eigentlich immer ein bis zwei Schachprojekte am Laufen. Die Planung und Organisation bereitet mit großen Spaß und die Motivation bekomme ich durch den Erfolg, den die Schachvorhaben und Angebote bereits haben.
5. Welche Pläne, Projekte oder Träume hast du?
Im kommenden Schuljahr führt die Klaus-Groth-Schule für alle Fünftklässler verbindlich eine Wochenstunde Schach für ein halbes Jahr ein. Ich habe hierfür ein Schachcurriculum erstellt, mit dem Ziel, dass die Fünftklässler nach einem halben Jahr alle Schachregeln sicher beherrschen, so dass sie danach frei entscheiden können, ob sie an den vielen Schachangeboten der Schule teilnehmen möchten.
Das Schachangebot wird nicht benotet, was mir sehr wichtig ist,
um die Lust und Freude am Spielen zu erhalten. Neben den Fächern Mathematik und Physik habe ich mich zum Schwimmlehrer ausbilden lassen. Seit 2023 verbinde ich zwei Hobbys miteinander Schwimmen und Schach.
Im Technikunterricht meines Kollegen Herrn Kohler und im Rahmen einer Projektarbeit entstanden mittlerweile vier Unterwasserschachsets. Jedes Halbjahr biete ich für interessierte Schülerinnen und Schüler von Klasse 3 bis 10 eine Unterwasserschachchallenge an. Das Angebot wurde auch im Fernsehen gezeigt. Hier kann man eindrucksvoll sehen, wie sich das Tauchverhalten von den Schülerinnen und Schülern innerhalb einer Schwimmstunde extrem verbessert.
Einmal im Jahr öffne ich das Schachangebot auch für die Familien und Freunde unserer Schülerinnen und Schüler, indem ich zum Familien-und Freundeturnier einlade. Der Anteil an Erwachsenen hat hier kräftig zugenommen. Zum Teil bringen die Kinder ihren Eltern das Schachspielen bei. Einen Rollenwechsel, der für ganz neue Perspektiven sorgt.
Das interne Schulschachturnier hat bereits weit über 100 Voranmeldungen und wächst von Jahr zu Jahr weiter. Diese Größenordnung erfordert bereits eine gute logistische Planung. Kinder übernehmen die Rolle von Schiedsrichter/innen und helfen beim Verkauf von Getränken und Snacks, um die Preise und Ausgaben für Schach zu refinanzieren. Es eröffnen sich hier mit Schach weitere Lernfelder für unsere Schülerinnen und Schüler, die plötzlich wirtschaftlich denken müssen, damit das Projekt Schulschach auch finanziell gesichert bleibt. Es haben sich auch kleinere Kunstprojekte dazugesellt, indem Schachbilder angefertigt werden und Kleinere Preise für die Schachturniere hergestellt werden.
In diesem Schuljahr haben ich gesehen, wie uns Vorschulkinder besucht haben und ein Kind am Schachspielen interessiert war. Daraus ergab sich die Idee mit unserer fünften Klasse ein Schachangebot für Kindergartenkinder zu entwickeln. Die Fünftklässler erklärten an einzelnen Stationen die Figurenbewegungen und ließen kleine Schachrätsel von den Vorschulkindern lösen, die Fleißstempel sammeln konnten. Am Ende erhielt jedes Vorschulkind einen Schachanhänger als Preis.
Dieses Angebot kam sehr gut an. Es führte sogar dazu, dass ein Vorschulkind noch nachträglich an unserer Schule angemeldet wurde, da wir an unserer Schule feste Schachangebote haben.
Was hier als kleines Angebot anfing soll nun eventuell zu einer Kooperation zwischen Schule und Kindergarten führen. Es könnte sogar dazu führen, dass ein kooperierender Kindergarten die Auszeichnung Deutsche Schachkita der deutschen Schachjugend erhalten könnte.
Ein ganz großer Schachtraum wurde im Juni 2024 wahr. Nachdem ich bei Walter Rädler mein Schulschachpatent erworben habe, hegte ich den großen Wunsch, dass wir in Kiel ein großes Schulschachturnier: Westliches gegen östliches Fördeufer ins Leben rufen. Dies erforderte kompetente Partner, die ich mit Heike Friedrich und Dennis Papesch von der Kieler Schulschachinitiative fand. Da Heike und Dennis mindestens genauso Schachbegeistert wie ich bin, fand die Idee schnell Zustimmung. Bis zur Umsetzung gingen allerdings noch 1,5 Jahre ins Land, bis wir mit Kiel Marketing einen guten Partner gefunden haben, der uns bei der Realisierung half. Direkt an der Kiellinie fand mit etwa 200 Teilnehmenden der erste Kieler Fördecup statt.
Dieses Jahr wird sich das Ereignis am 16. Juli wiederholen. Während der Ehrung mit dem goldenen Chesso bei den Einzeljugendmeisterschaften in Willingen (Hessen) habe ich Rainer Woisin von Chessbase kennengelernt. Er war maßgeblich beteiligt beim Projekt Schule macht schlau in Bremen. Ein Traum wäre es, wenn dieses Erfolgskonzept von Bremen auf Kiel übertragen werden könnte. Die Strukturen in Kiel halte ich hierfür für äußerst günstig und der Gewinn für die Kieler Schulen wäre aus meiner Sicht immens.
6. Was sind die Stärken im deutschen Schach, natürlich haben wir auch Schwächen, wo kann man die Stellschraube drehen?
Ich komme vom Schulschach her und kenne mich weniger mit den Vereinen und ihrer Arbeit aus. Ganz allgemein halte ich es allerdings für ratsam, genau hinzusehen und hinzuhören, um die Kinder in ihrer Phantasie und Lebenswelt mitzunehmen.
Grundschulkinder und auch größere Kinder lieben es, wenn die Figuren mit Fantasie und Gefühlen aufgeladen werden. Ein König, der es auf die Schätze des anderen Königs abgesehen hat, die er plündern möchte erzeugt natürlich mehr Interesse als zwei Spielfiguren und ihre Bewegungsmöglichkeiten.
Fast alle Kinder kennen Harry Potter und die Schachszene. Eine Schülerin von mir schlug vor, mit dem Gartenschach zu spielen, wobei sie und zwei Mitschüler jeweils die Rolle einer Spielfigur übernehmen. Das Spiel hat dadurch eine ganz neue Dynamik bekommen. Erst wenn man selbst die Rolle einer Schachfigur einnimmt, lässt sich nachvollziehen, wie sich eine Schachfigur auf dem Brett fühlen muss, wenn sie leben würde. Wenn ich dann später davon spreche, dass auch die anderen Figuren mitspielen möchten oder die Frage stelle, auf welchem Feld sich die Figur besonders stark fühlen würde, docke ich mit hoher Wahrscheinlichkeit an der Erlebniswelt dieser Schülerin an.
Bewegung im Schach halte ich ebenfalls für sehr effektiv, Laufschach macht vielen Kindern viel Spaß und sorgt bei Zuschauern für Neugierde. Verschiedene Schachvarianten sorgen für viel Abwechslung.
Freunde- und Familien sollten meiner Meinung nach nicht aus den Augen verloren werden. Wenn es gelingt Familie und Freunde immer wieder mit gemeinsamen Angeboten zu locken, dann gelingt sicherlich auch eine längerfristige Bindung.
Die Klaus-Groth-Schule ist seit längerer Zeit schon sehr aktiv im Bereich Schach tätig. Hier sehe ich noch großes Potential für Schachvereine, wenn sie sich aktiver bemühen würden, Kontakt zu den Schach-AG-Leitungen aufzunehmen und mit guten Ideen und Angeboten punkten.
Ich habe zur Zeit den Eindruck, dass es in den Vereinen kaum Menschen gibt, die dies aktiv angehen. Die Vereine könnten hier sicherlich noch sehr viele Mitglieder gewinnen.
Dem Mädchenschach würde ich besondere Aufmerksamkeit schenken wollen. Um den Mädchenanteil im Verein langfristig zu erhöhen, würde ich empfehlen, dass Vereine nach Möglichkeit auch ein reines Angebot nur für Mädchen installieren.
Einige Links zu tollen Beiträgen aus unseren Vorhaben und Projekten:
Hier gibt es noch Links zu den Beiträgen der im Interview genannten Themen:
NDR-Beitrag zum Unterwasserschach:
NDR-Beitrag zum Familien-und Freunde-Schachturnier (FFST):
..und ein Bericht von der Wübbenstiftung über das Turnier:
https://www.schub-magazin.org/60-reportage-schach-sh25/
…und ein kleiner Podcast:
Bericht über den Kieler Fördecup mit Oberbürgermeister Kämpfer:
https://klaus-groth-kiel.de/allgemein/foerde-cup-schulschachturnier-2024/
- schulinternes Schulschachturnier:
https://klaus-groth-kiel.de/allgemein/3-schulschachturnier-der-kggs/
Bericht über unsere erste Aktion mit einem Kindergarten:
https://klaus-groth-kiel.de/allgemein/kleine-schachmeister-zu-gast-bei-der-klasse-5b/
Bericht über eine erfolgreiche Spendenaktion mit Hilfe von Schach:
Hier gibt es den ersten Entwurf unseres schulinternen Schachcurriculums für unsere Fünftklässler. Das Ziel ist, innerhalb eines Schulhalbjahres die Regeln des Schachspielens zu vermitteln:
Ich bin immer wieder erstaunt, mit wie viel Engagement in Deutschland Schach unterrichtet wird. Weiter so!
Danke und ich verspreche, dass es auf jeden Fall weiter geht. Es gibt noch so viele Möglichkeiten, die auf ihre Chance warten.
Ich würde mich sehr freuen, wenn meine geschätzte Kollegin es schafft, dass es zu einem länderübergreifenden Austausch kommt.
Schach überwindet Grenzen wäre da ein schönes Motto.