
Schach & Girls 9. Photo: privat
Die neue, von Chessable teilweise finanzierte Studie „Sex Differences in Intellectual Performance: Analysis of a Large Cohort of Competitive Chess Players“ von Christopher F. Chabris und Mark E. Glickman untersucht das Gender Gap.
Basis sind die Daten von fast drei Jahrzehnten von über 680.000 Spielern der United States Chess Federation (US Chess). Der folgende Text ist zitiert nach einer Veröffentlichung von Chessable.
„Die Ergebnisse zeigten, dass:
- Jungen und Mädchen verbessern sich im Laufe der Zeit stetig, aber Jungen neigen dazu, mit einem Bewertungsvorteil zu beginnen, der im Laufe der Jahre anhält.
- Mädchen fallen aus dem bewerteten Wettbewerb mit höheren Raten als Jungen aus, was auf Unterschiede in der langfristigen Bindung und des Engagements hindeutet.
- Wenn jedoch Jungen und Mädchen für Alter, Kohortenjahr und Startbewertung übereinstimmen, sind ihre Bewertungsfortschritte praktisch identisch.
Wie die Autoren feststellen: ‚In geografischen Gebieten, in denen mehr Mädchen von Anfang an spielen, schrumpft die Lücke beim Einstieg in die Bewertungen zwischen Jungen und Mädchen … Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Förderung von Umgebungen, in denen Mädchen gleichberechtigter vertreten sind, einen großen Beitrag dazu leisten könnte, die Wettbewerbsbedingungen zu verbessern.‘
Zusammen verstärken diese Ergebnisse die Akzeptanzrate, die behauptet, dass die Ratinglücke nur ein Produkt der Unterschiede in der Teilnahme und Bindung und nicht der intrinsischen Fähigkeit ist.
Diese Forschung unterstreicht das anhaltende Engagement von Chessable für Wissenschaft, datengestützte Einblicke und Inklusion im Schach und unterstützt Studien, die unser Verständnis von Schachthemen vertiefen.“
Die komplette Studie ist übrigens nur kostenpflichtig abrufbar.
Nun zur Interpretation der Ergebnisse der Studie:
Ohne diese Untersuchung genau studiert zu haben lässt sich natürlich nur bedingt etwas dazu sagen. Aber einige Punkte fallen schon auf und wecken Zweifel.
Es handelt sich um eine Studie auf der Basis eines mathematischen Modells. Doch solches „number crunching“ hat seine Grenzen, wenn Menschen im Spiel sind. Aspekte der Psychologie, der Soziologie, Erfahrungen aus der Praxis und Dinge aus dem Umfeld können dabei nicht berücksichtigt werden. (Erinnert euch an Bilalics Modell, das 90% errechnete, sich aber als fehlehrhaft erwies.) Wir sehen z.B. im Bereich der Ökonomie immer wieder, wie sehr solche Modelle sich widersprechen oder an der Realität vorbeigehen.
Einige Punkte, die mir spontan aufgefallen sind:
Basis der Studie sind Mitglieder der US-Schachföderation. Doch die Struktur des US-Schachs ist eine andere als die europäischer Länder. Es gibt kaum Vereine und Mannschaftsmeisterschaften, die Spieler sind meist „Einzelkämpfer“.
Es heißt im „Abstract“ (der Zusammenfassung der Ergebnisse der Studie):
„Matched boys and girls improve and drop out at equal rates,“ und das stimmt in Deutschland zumindest nicht, wo die „Drop-out“ rate bei ca. 70% und 55% liegt und das „improving“ eindeutig nicht gleich ist.
Ein anderer Punkt ist:
„In locales (Anm.: das meint Gebiete) where at least 50% of the new young players are girls, their initial ratings are not lower than those of boys.“
Wo ist dieser Punkt anzusetzen? Das „Initial rating“ ist Null und bei fortgeschrittenen Anfängern irgendwo in tiefer Dreistelligkeit. Zudem mag es sein, dass in manchen Gebieten eine intensive Mädchenarbeit betrieben wird, was diesen einen Vorsprung gegenüber Boys gibt, der aber schnell nachlässt.
Oder:
“ Wenn jedoch Jungen und Mädchen für Alter, Kohortenjahr und Startbewertung übereinstimmen, sind ihre Bewertungsfortschritte praktisch identisch.“
Auch das lässt sich in Deutschland und Europa nicht belegen, wo überall (sogar in den ehemaligen GUS-Staaten) die Boys bald weit voran sind. Ein Beispiel aus den USA:
Die Top-Talente Alice Lee (*2009) und Andy Woodward (*2010) sind beide im Alter von ca. 8 Jahren im Bereich „Class C“ (1400-1600) gestartet. Alice hat heute Elo 2409, Andy 2590 und ist auf dem Weg in die Weltklasse. Natürlich nur ein Einzelfall, aber sicher lassen sich zahlreiche ähnliche Beispiele finden.
Was die Studienautoren, wie so viele andere auch, geflissentlich übersehen ist das offensichtlich weit geringere Interesse der Girls, ins aktive Schach einzusteigen. Die Rate liegt in Deutschland bei ca. 1:5. Meiner Meinung nach ist das Gender Gap neben vielen sekundären Faktoren dadurch bedingt, dass Mädchen allgemein weniger am Schach interessiert / intrinsisch dazu motiviert sind, und selbst wenn weniger bereit sind, darin so tief einzusteigen und so viel Zeit und Kraft zu investieren wie Jungen, und ab einem gewissen Punkt ihr Engagement begrenzen. Dies empirisch zu untersuchen würde sich lohnen, ist aber mit erheblichem Aufwand verbunden und dadurch scheuen die meisten Wissenschaftlicher es.
Nachfolgend noch das Abstract der Studie:
Only 1% of the world’s chess grandmasters are women. This underrepresentation is unlikely to be caused by discrimination, because chess ratings objectively reflect competitive results. Using data on the ratings of more than 250,000 tournament players over 13 years, we investigated several potential explanations for the male domination of elite chess. We found that (a) the ratings of men are higher on average than those of women, but no more variable; (b) matched boys and girls improve and drop out at equal rates, but boys begin chess competition in greater numbers and at higher performance levels than girls; and (c) in locales where at least 50% of the new young players are girls, their initial ratings are not lower than those of boys. We conclude that the greater number of men at the highest levels in chess can be explained by the greater number of boys who enter chess at the lowest levels.
Beim Lesen dieses Beitrags ergeben sich mir einige Fragen.
Bevor ich zu inhaltlichen Punkte komme, möchte ich feststellen, dass die Studie mit dem Titel „Sex Differences in Intellectual Performance: Analysis of a Large Cohort of Competitive Chess Players“ aus dem Jahr 2006 ist und meines Wissens allein daher nicht von Chessable finanziert sein kann.
Der Blogeintrag bei Chessable (https://www.chessable.com/blog/new-study-on-sex-differences-in-chess-published-in-journal-supported-by-chessable/) macht auch deutlich, dass Chessable die Erweiterung dieser Studie von 2006 teilfinanziert hat. Die neue Studie trägt den Titel „Across the Board: Sex, Ratings, and Retention in Competitive Chess.“ und hat neben den beiden hier genannten Autoren eine weitere Autorin: Angela Li.
Nun zum inhaltlichen: Ich bin kein Statistiker, mit einem Hintergrund in Mathematik ist mir an diesem Beitrag und beim Lesen der Studie von 2006 mindestens eine Sache aufgefallen, die mich stört. Aus Zeit- und Platzgründen stelle ich erstmal nur diese hier da, vielleicht folgen bei Gelegenheit noch mehr Dinge.
Zu
„„Matched boys and girls improve and drop out at equal rates,“ und das stimmt in Deutschland zumindest nicht, wo die „Drop-out“ rate bei ca. 70% und 55% liegt und das „improving“ eindeutig nicht gleich ist.“
sei zu sagen, dass es hier nicht um allgemeine Drop-outraten geht, sondern der Teil „matched boys and girls“ relevant ist. Was in der Studie gemacht wurde, ist das folgende: Man hat sich vier Variablen genommen: Rating am Ende von 1995, Alter, Partien in 1995 und Partien in den vorherigen drei Jahren. Auf Basis dieser Daten wurden Paare mittels des sogenannten „caliper matching“ (https://cran.r-project.org/web/packages/MatchIt/vignettes/matching-methods.html#caliper-matching-caliper für diejenigen, die wie ich auch nicht wussten, was das eigentlich ist) gebildet. So sind 647 Paare entstanden, deren Daten über 10 Jahre verfolgt wurden. Abgebildet sind in der zugehörigen Grafik leider nur 5 Jahre, aber zumindest da ist zu sehen, dass der Mittelwert der Ratingunterschiede nahe (weniger als 50 Punkte) bei 0 ist.
Etwas ähnliches wurde dann in der Studie von 2025 gemacht. Konkret hat man Jungen und Mädchen betrachtet, die zwischen 2000 und 2010 in einem Alter zwischen 8 und 10 Jahren mit gewerteten Partien angefangen haben (zumindest habe ich so „started competing“ verstanden, ist auch sinnvoll, da man nur nach gewerteten Partien Ratings vergleichen kann). Dort hat man ursprünglich 6035 Paare gebildet, von denen nach dem Beobachtungszeitraum von 9 Jahren noch 197 Jungen und 161 Mädchen übrig geblieben sind. An dieser Stelle sei auch noch erwähnt, dass wenn man die Spielerinnen und Spieler aus diesen Paaren hinsichtlich des Aufhörens betrachtet, kein großer Unterschied zwischen den Geschlechtern zu beobachten ist. Dieses Phänomen tritt nicht auf, wenn man alle Spielerinnen und Spieler betrachtet, dann hören Mädchen mit einer schnellen Rate auf, nach 9 Jahren sind die Anteile an noch Aktiven jedoch ähnlich.
Zurück zur Studie von 2025 und den Matchings: In der entsprechenden Grafik sieht man, dass die Mediane (Achtung, nicht Mittelwert, sondern mittlerer Wert der nach Größe sortierten Werte) sich sehr ähnlich verhalten, man nichtsdestotrotz Ausreißer nach oben bei Jungs deutlich größer sind.
Abschließend zu dieser Thematik möchte ich sagen, dass das Beispiel von Lee und Woodward natürlich nett, aber statistisch vollkommen irrelevant ist.
Inwiefern die Ergebnisse anders aussehen würden, wenn man DWZ statt des USCF-Ratings betrachten würde, vermag ich natürlich nicht zu sagen. Es wäre sicher interessant die in beiden Papern beschriebenen Methoden auf das deutsche Schach anzuwenden, aber dazu fehlen mir – neben der statischen Kenntnisse – auch die Daten und vor allem die Zeit.
Die Tatsache, dass die Studie hinter einer Paywall liegt (für Studierende oder Universitätsangehörige ggf. über ihre Bibliothek verfügbar, ist, anders als mir der Beitrag hier suggeriert, auch nichts schlechtes, sondern bedeutet in diesem Fall nur, dass die Autoren sich entschieden haben, nicht extra für Open Access zu bezahlen.
Akademisch relevanter in dem Kontext ist, dass laut Inforationen des Journals ein Peer-Review Prozess stattfindet.
Als Mädchen hätte ich keine Lust gehabt, gegen Vorurteile anzukämpfen. Es sei denn, ich hätte eine Mission daraus machen wollen. Eine Mission verfolgt man wohl meist aus Erfahrungen der Abwertung, wie es Mädchen wohl des öfteren in ihrer Kindheit erfahren haben. Zumindest kenne ich einige Frauen, die solches berichtet haben.
Sich freiwillig in einer Männerdomäne aufzuhalten, dazu „muß man geboren sein“!
„So sind 647 Paare entstanden, deren Daten über 10 Jahre verfolgt wurden.“
Schön und gut, aber was ist mit den zahlreichen anderen Boys und Girls geschehen, deren Ratings stark voneinander abweichen? Hat man hier einen Teilbereich herausgegriffen? Wie groß war die Zahl der Kids überhaupt? Welches Niveau haben diese Paare erreicht?
„Sich freiwillig in einer Männerdomäne aufzuhalten, dazu ‚muß man geboren sein‘!“
Wie traurig für all die Girls, die in Handwerk, Universitätsbereichen, Managment oder Politik tätig sind!?
Gibt es ein Gen, das solche Karrieren ausschließt? Gegen Vorurteile müssen nicht nur Mädchen ankämpfen und zu lernen, solche Widerstände zu überwinden ist das A und O jeden beruflichen Erfolgs.