
Teil 1: Frauen
Auslöser für diesen Artikel ist vor allem der neueste Beitrag von Gerald Hertneck und da die Bemerkungen zu Gegenwart und Zukunft (was Elisabeth Pähtz betrifft, vielleicht auch Vergangenheit) des deutschen Frauenteams. Ein bisschen spielt auch „Die Affäre um GM Etienne Bacrot“ eine Rolle. Auch das französische Frauenteam war nicht in nomineller Bestbesetzung, wobei ich da die Hintergründe nicht kenne. Bei Frankreich spielt vielleicht auch noch ein Thema eine Rolle, wozu hier schon diverse Artikel und Kommentare erschienen sind. Das alles gegen Ende dieses Artikels, sie waren ja an neun gesetzt und landeten auf dem neunten Platz.
Generell gleich der erste erläuternde Disclaimer: Wenn ich in Aufstellungen Spielerinnen „vermisse“ werde ich weder schreiben, dass sie „nicht berücksichtigt wurden“ noch dass sie „verzichteten“. Ich weiß es generell nicht. Es gibt auch noch eine dritte Möglichkeit zwischendrin: Sie hatten Interesse aber zu hohe finanzielle Erwartungen, die der jeweilige Verband nicht erfüllen konnte oder wollte. Jeweils betrachte ich es dabei als interne Angelegenheit des jeweiligen Verbands bzw. als Privatsache der Spielerinnen. Ich schreibe eben, dass sie „nicht spielten“ oder „fehlten“. Letzteres mag auch vorwurfsvoll klingen, aber ist nicht so gemeint.
Gendern muss ich hier nicht, da ich mich vorläufig nur den Frauen widme. Zu den Männern kommt dann ein separater Artikel, sonst wird es wirklich zu viel und zu lang. Auch so können Leserinnen und Leser ja entscheiden, welches Land sie interessiert und welches eher nicht.
Die Datenbasis
Es wird mal wieder „datenbasierte Fleißarbeit“ anhand der FIDE-Elolisten. Dabei betrachte ich die aktuellsten Elozahlen, Nominierungen erfolgten ja überall (soweit Elo eine Rolle spielte) anhand von etwas älteren Listen. Wenn man das deutsche Herrenteam nun aufstellen müsste, dann vielleicht mit Donchenko und ohne Rasmus Svane. Das war zum Zeitpunkt der Nominierung anders. Andere Daten ändern sich nicht: Geburtsjahr der Spielerinnen. Alle werden zwar älter, aber einige Monate spielen keine Rolle (oder nur im positiven Sinne bei jungen aufstrebenden Spielerinnen) und dieses Detail ist ja in FIDE-Elolisten nicht erfasst. In einigen Fällen habe ich auch nachgeschaut, wer wann den Verband wechselte – „warum“ erwähnt FIDE nicht, neben politischen gab es auch private und in einem Fall offenbar noch andere Gründe. Wer wann das Geschlecht wechselte ist nur ein kleiner Nebenschauplatz.
Und noch ein Disclaimer: bei Bemerkungen – direkt oder indirekt – zu Elisabeth Pähtz bemühe ich mich, „sorgfältig zu formulieren“ und zitiere auch andere. Ob mir das gelingt mögen andere entscheiden. Ich schreibe ja „Aufstellungen anderer Teams“, dabei ist Deutschland eines von zehn Teams die ich näher betrachte.
Soweit die Vorbemerkungen. Bei allen Teams geht es nun um Gegenwart (Vergangenheit nur soweit sie aktuelle Aufstellungen betrifft) und Zukunft – wer könnte da vielleicht in ein, zwei oder auch fünf Jahren in der Nationalmannschaft spielen? Der Reihe nach für die top10 (des Turniers und der Setzliste, damit werden es insgesamt 11):
Polen (Gold im Turnier, an 2 gesetzt)
Da spielten mit Kashlinskaya (*1993), Maltsevskaya (*2002), Kiolbasa (*2000), Socko (*1978) und Kulon (*1992) die Nummer 1, 2, 3, 5 und 7 der aktuellen Eloliste – altersmäßig ein „gemischtes“ Team. Ich musste etwas grinsen, dass chess.com im Zwischenbericht schrieb „GM Monika Socko and IMs on the other boards“. Das klingt nach Brett 1 für die älteste im Team, es war (passend zu aktuellen Elozahlen) Brett 4. Generell hat chess.com nur zwei eher dünne Artikel zum Turnier. Es ist eben eine amerikanische Seite. Und ihre europäischen Lieblinge Carlsen und Firouzja fehlten in Batumi.
Dass Klaudia Kulon zuletzt 70 Elopunkte einbüßte hat die Nominierung wohl nicht beeinflusst, nur dann die Brettfolge. Dass sie diese schlechte Form dann bestätigte führte wohl dazu, dass sie dann nur vier Partien spielte. Alternativen hatten sie am ehesten mit Cyfka (tat jedenfalls mir einen Gefallen, dass sie ihren früheren Doppelnamen Szczepkowska-Horowska ablegte), Zawadzka und Sliwicka. Iweta Rajlich taucht wieder in der nationalen Liste auf Platz 4 auf, da sie nach jahrelanger Inaktivität im Januar wieder ein Turnierchen spielte. Aber das ist eher keine Empfehlung für die Nationalmannschaft (alle fünf Gegner Elo unter 2000).
Nachwuchs haben sie nicht unbedingt. Sliwicka (*2001) war mal Jungtalent und schaffte den Durchbruch eher nicht. Oder es sind fünf Spielerinnen mit Geburtsjahr 2010-2012 und Elo etwa 2050-2150. Da muss man abwarten, wie die sich weiter entwickeln.
Warum nun Gold?
Jahrelang zählten sie zum Kreis der Favoritinnen und mischten auch oben mit. Aber eine Medaille (Bronze) gab es zuletzt 2013, danach noch zweimal Blech (Platz 4). Warum nun Gold? Neben „diesmal lief es“ hat es vielleicht drei Gründe:
– Russland gehört nun schachlich zu Asien
– Zwei Russinnen spielten nun vorne für Polen
– Ukraine spielte (s.u.) „oben ohne“.
Bei Kashlinskaya, mit Radek Wojtaszek verheiratet, hat der Verbandswechsel wohl auch private Gründe – er erfolgte dabei erst nach der russischen Ukraine-Invasion. Maltsevskaya hatte den Verbandswechsel dagegen bereits am 9.2.2022 beantragt, das war noch kurz vor dem eskalierenden Konflikt. Nur die italienische Wikipedia-Seite nennt einen Grund: Krach mit dem Schachverband, der sie nach ihrer Einschätzung in ihrer professionellen Entwicklung behinderte. Dazu nennen sie eine russische Quelle, auch da hat mir Google Translate geholfen.
Mutti spielt noch Schach
Gemeint ist Kashlinskaya, die als junge Mutter ihre Karriere nicht beendet hat (Wojtaszek spielte auch, offenbar hatten sie einen Babysitter). Auch Pia Cramling spielte jahrzehntelang als Mutter, zuletzt auch zusammen mit der inzwischen erwachsenen Tochter. Auch im Berufsleben bedeutet Mutterschaft nicht unbedingt Karriereende. Aber das ist immer eine private Entscheidung.
Ukraine (Silber, an drei gesetzt)
Das war wohl weniger überraschend als Gold für die an 9 gesetzten Herren. „Oben ohne“ bedeutet ohne die beiden Muzychuk-Schwestern. So war es an den mittleren Brettern ein sehr erfahrenes Team – um mal das Wort „alt“ zu vermeiden. Vorne spielte die „korrigierte“ Nummer eins Osmak (*1998), aber dann Ushenina (*1985), Gaponenko (*1976) und Zhukova (*1979). Dahinter mit Bozhena Piddubna (*2009) wieder eine junge Spielerin, die mir gar kein Begriff war. Schwachpunkt im Team war dann Gaponenko, aber das konnten sie insgesamt kompensieren.
Warum Piddubna statt der älteren und langfristig Elo-etablierteren Yelyzaveta Hrebenshchykova (*2005)? Ich lege mich mal nur fest, woran es wohl nicht lag. Es war weder der aktuell eine Elopunkt zugunsten von Piddubna, noch wollte man westlichen Schachschreiberlingen einen komplizierten Namen ersparen. Hrebenshchykova wohnt dabei womöglich in Deutschland, wo sie neben Mannschaftskämpfen auch recht viele Turniere spielt.
Nachwuchs: neben den bereits genannten auch hier fünf mit Baujahr 2009 oder 2010 und Elo 2070-2190 – kann noch was werden oder auch nicht.
Deutschland (Bronze, an sechs gesetzt)
Da wiederhole ich die Analyse von Gerald Hertneck mal nicht. Die Mannschaftsaufstellung erschien mir nach dem Verzicht von Elisabeth Pähtz logisch. Zum Turnier schrieb Josefine Safarli, dass sie in einigen Runden durchaus auch Glück hatten „aber jeder hat mal Glück!“.
Zur eventuellen zukünftigen Rolle von Elisabeth Pähtz: wenn sie wieder spielen will wird sie wohl wieder spielen. Die Frage wäre, wen man dann „aussortiert“ – vermutlich Dolzhykova. Sollte Pähtz, analog zu Peter Leko für Ungarn (kommt im zweiten Artikel), auch dann spielen wenn sie sonst generell inaktiv ist bzw. nur noch Trainerin und Kommentatorin? Diese Frage stelle ich mal, ohne sie zu beantworten.
Zu Dinara Wagner schrieb Gerald, dass sie „mit ihrer sympathischen und ausgeglichenen Art wohl der Ruhepol der Mannschaft war“. Provokative Frage: wie schaut’s da aus bei Elisabeth Pähtz? Genaue Worte auf Schachdeutschland TV habe ich nicht parat, aber tendenziell: ihre langjährige Rolle als „Mutti der Mannschaft“ hatte Vor- und Nachteile. Stefan Löffler wurde für die FAZ noch konkreter, ohne konkret zu werden. Er schrieb, dass Pähtz „in der Vergangenheit mitunter auch für Kontroversen und Unruhe im Team gesorgt hatte“. Nur soviel zum deutschen Team …. .
Bulgarien (Blech – Platz 4 – für die Fünften der Setzliste)
Bis auf das Spitzenbrett Antoaneta Stefanova (*1979) war es ein junges Team, die vier anderen im laufenden Jahrtausend geboren. Weiteren Nachwuchs haben sie dabei eher nicht. Vorne steht vielleicht eine Wachablösung an, da Salimova nach Elo nahe dran ist an der Ex-Weltmeisterin. Ob Stefanova im Team eine Mutti-Rolle hat, beansprucht oder bekommt müsste man sie selbst und die Teamkolleginnen fragen.
Im Turnier lagen sie nach Runde 6, damit vor dem Ruhetag, nur auf Platz 16 (die deutschen Herren zu diesem Zeitpunkt immerhin auf Platz 12). Aber in den letzten Runden konnten sie noch dreimal voll punkten.
Armenien (an acht gesetzt Platz 5)
Da spielten mit Danielian (*1978), Mkrtchian (*1982), Mkrtchyan (*2004), Gevorgyan (*1994) und Gaboyan (*1996) vier der fünf aktuell Elo-besten – nicht in dieser Reihenfolge sondern Brett 3 für Danielian. Die nationale Nummer 4 Galojan (*1983) ist dabei nahezu inaktiv. Gevorgyan war mit einem halben Punkt aus drei Partien (mehr wurden es nicht) der Schwachpunkt im Team. Nachwuchs haben auch sie eher nicht, generell sind sie für Kaukasus-Verhältnisse bei den Damen eher schwach aufgestellt.
Der beachtliche fünfte Platz wurde es auch durch ein 2-2 in der letzten Runde gegen die Ukraine.
Georgien 1 (Platz 6 für die recht klaren Elo-Favoritinnen)
In der ersten Mannschaft spielten die nominell besten fünf, weitere Spielerinnen konnten sie ja im zweiten und dritten Team unterbringen. Dzagnidze (*1987), Batsiashvili (*1987), Javakishvili (*1984), Arabidze (*1994) und Khotenashvili (*1988) sind alle „nicht mehr jung“, dabei alle bei 2400+ etabliert. Mit Kirtadze (*2009, Elo 2303) und Mgedladze (*2010, Elo 2290) spielten die beiden mit am ehesten Perspektive in der dritten Mannschaft. Generell gilt für Georgien sonst mittelfristig vielleicht „mehr Vergangenheit als Zukunft“.
Nach sieben Runden hatten sie trotz vorangegangener Niederlagen gegen Deutschland und Polen eventuell noch Medaillenchancen, aber dann noch eine Niederlage gegen die Ukraine (Medaille außer Reichweite) und nur 2-2 gegen Spanien (auch noch hinter Bulgarien und Armenien). Schwachpunkt im Team war Spitzenbrett Dzagnidze (2/7, nach vier Remisen noch drei Niederlagen).
Spanien (an sieben gesetzt Platz sieben)
Das passt ja. Auch da eine Mischung aus vorne relativ jung, in der Mitte vergleichsweise alt und dann wieder jung: Khademalsharieh (*1997, Migrationshintergrund), Vega Gutierrez (*1987), Matnadze (*1983), Calzetta Ruiz (*1972), Garcia-Castany Musellas (*1997). Warum statt der nationalen Nummer 3 Marta Garcia Martin (*2000) die Nummer 8 Gal.la Garcia-Catany Musellas spielte, ist (mir) unklar. Mögliche Erklärungen sind eine Verwechslung der Email-Adressen, als die Einladungen verschickt wurden, oder das Bedürfnis Gegnerinnen schon vor Partiebeginn zu schocken – langen Namen auf dem Formular notieren. Es kann auch andere Gründe geben. Auch Spanien hat tendenziell keinen Nachwuchs.
Rumänien (Platz 8 für den 17. der Setzliste!)
Mit Bulmaga (*1993), Cosma (*1972), Sgircea (*1989), Lehaci (*2004) und Sandu (*1977) ein altersmäßig gemischtes Team. Dazwischen in der nationalen Eloliste Carmen Voicu-Jagodzinsky – man könnte sie selbst fragen, ob sie Interesse hätte für ihr Heimatland zu spielen. Aber „dazu habe ich nicht recherchiert“. Gerade spielte sie dabei in der rumänischen Frauenliga, Kontakte gibt es offenbar noch. Elo 2300+ haben sie nur am Spitzenbrett, dabei da fast 2400 (Sandu hatte früher auch 2300+, das war früher?). Elo 2200+ reicht für einen Platz in der Nati0nalmannschaft. Es gibt drei relativ junge Spielerinnen, die das vielleicht noch schaffen könnten.
Ausschlaggebend für das gute Endergebnis waren vor allem Siege gegen die bulgarischen Nachbarinnen und zum Abschluss gegen Griechenland.
Frankreich (an neun gesetzt Platz neun)
Das passt wieder. In Frankreich bei den Frauen wie bei den Herren eine überraschende Aufstellung, nicht nominelle Bestbesetzung sondern Nummer 2, 3, 8, 10 und 14 der nationalen Liste. Bei Deimante Daulyte-Cornette (*1989) verrät der Doppelname, warum die ehemalige Litauerin für Frankreich spielt. Dahinter Milliet (*1983), Navrotescu (*1996, ursprünglich Rumänin aber schon lange auch Französin), Guichard (*1988) und Negre (*2010).
Einige „fehlten“. Die langjährige Nummer 1 Marie Sebag und die aktuelle Nummer 5 Almira Skripchenko sind dabei nun relativ inaktiv, das gilt nicht für die aus Russland zugewanderte Nummer 6 Anastasia Savina. Die Nummer 4 Manon Schippke (*2007) „fehlte entschuldigt“: bessere Medaillenchancen bei der parallelen Jugend-WM. Yosha (früher Joshua) Iglesias fehlte auch, gerade wurde sie französische Meisterin aber das war vielleicht schon nach der Nominierung – nach ECU-Regeln hätte sie wohl spielen können.
Bei Emilie Negre gilt: Elo 2221 reicht auch nach französischen Maßstäben eigentlich nicht für die Nationalmannschaft, aber diesmal reichte es. Details entschieden vielleicht zu ihren Gunsten gegenüber Ines Bernard (*2010, Elo 2211) und Maia Arzur (*2009, Elo genau 2200) – die etwas höhere Elozahl oder andere eher subjektive Gründe?
Soweit die Teams mit am Ende 11-7 Mannschaftspunkten oder mehr, zwei nenne ich noch:
Aserbaidschan (an vier gesetzt Platz 10)
Etwas enttäuschend am Ende, es lag vor allem an drei knappen Niederlagen gegen Deutschland, Georgien und Polen. Sie haben mit Fataliyeva (*1996), Balajayeva (*2001), Beydullayeva (*2003), Mammadova (*1991) und Allahverdiyeva (*2005) ein insgesamt relativ junges Team.
Warum spielte die Nummer 2 Mammadzada (*2000) nicht? Auch ein Tippfehler bei der Email-Adresse, deshalb Mammadova? Dabei Gulnar Mammadova (*1991) und nicht die einerseits jüngere (*1999), andererseits 120 Elopunkte schlechtere Narmin Mammadova. Verwechslungsgefahr gab es auch zwischen Allahverdiyeva und Aghaverdiyeva (*2010, Elo 2036), da klappte es dann besser.
Viel Nachwuchs hat Aserbaidschan dabei nicht – es sei denn, einige sehr junge Spielerinnen mit aktuell Elo tendenziell unter 2000 sind stark unterbewertet und/oder machen in den nächsten Jahren große Fortschritte.
Schweiz (an zehn gesetzt Platz 11)
Die hohe Platzierung in der Setzliste liegt vor allem am importierten Spitzenbrett Kosteniuk (*1984), die da dann 7,5/9 (TPR 2602) erzielte. Die vier dahinter sind generell jünger und beherrschen vielleicht auch nicht Schwyzerdütsch oder Französisch mit Schweizer Akzent: Manko (*2007), Hryzlova (*2004), Hakimifard (*1994) und Shatil (*2010). Viel (und „eigenen“) Nachwuchs hat die Schweiz nicht, vielleicht Christina Jordan (*2012, Elo 1979).
Soweit ….
Welche Schlussfolgerungen man aus alledem zieht, wenn überhaupt, überlasse ich dem Publikum. Global müsste man es auch noch mit anderen Kontinenten vergleichen, nur als erster Eindruck: die USA, Indien und Kasachstan sind für die Zukunft besser aufgestellt, China nicht unbedingt (bis auf Lu Miaoyi, und andere sind vielleicht unterbewertet), Russland auch eher nicht.