
Symbolbild von Gemini
Der erfreuliche und etwas überraschende Sprung von Vincent Keymer auf Platz 10 der Weltrangliste führt uns zu der spannenden Frage, wer waren denn eigentlich die besten deutschen Schachspieler aller Zeiten?
Gehen wir über 100 Jahre in die Vergangenheit zurück, dann sieht es wie folgt aus:
Adolf Anderssen, Nummer 1 der Welt zwischen 1860 und 1867; im Grunde inoffizieller Weltmeister vor Steinitz, auch wenn er sich nicht so bezeichnete.
Dr. Emanuel Lasker, Nummer 1 der Welt von etwa 1890 bis etwa 1920, Weltmeister von 1894 bis 1921
Dr. Siegbert Tarrasch, Nummer 2 der Welt von 1890 bis etwa 1906
Das waren die goldenen Schachzeiten, wie Vidmar so schön schreibt, und zwar vor allem für Deutschland. Doch nun wenden wir uns der Nachkriegszeit zu, wo die Lage wesentlich komplexer wird, und die uns auch gedanklich näher liegt.
Unser Ziel war es hier, die deutschen Spieler mit den besten Platzierungen in der Weltrangliste aufzufinden und einzuordnen. Dabei traten jedoch folgende Probleme auf:
1. Um die Spieler zu vergleichen, verwendet man am besten die Elozahl, doch die gibt es erst seit 1970. Für die Zeit davor wurden vom Statistiker Jeff Sonas auf Chessmetrics fiktive Elozahlen (und damit auch fiktive Weltranglistenpositionen) berechnet, die jedoch alles andere als zuverlässig sind. Hier haben wir frei Hand Korrekturen nach unten vorgenommen, um nicht das Gesamtbild zu verzerren.
2. Das Niveau der Elozahlen hat sich im Lauf der Jahrzehnte verändert, und zwar hauptsächlich durch eine relativ starke Elo-Inflation, und in den letzten 10 Jahren auch einer Elo-Deflation. Hier haben wir uns entschieden, die Elozahlen einfach so zu lassen, wie sie in der jeweiligen Liste standen. Das führt dann dazu, dass ein Spitzenspieler der 80er Jahre (GM Hübner) eine wesentlich niedrigere Zahl hat als ein heutiger Spitzenspieler (GM Keymer), denn die Zahlen sind heute im Schnitt etwa 100 Punkte höher.
3. Früher wurden die Elozahlen in den FIDE-Listen nur im Abstand von 5 Punkten angegeben, was dazu führte, dass es mehr punktgleiche Spieler gab als heute. Aus diesem Grund haben wir für die Platzierung Durchschnittswerte berechnet. Waren zum Beispiel fünf Spieler punktgleich auf Rang 20 bis 24, dann haben wir den Durchschnittswert Platz 22 errechnet.
4. Was ist nach unserer Definition ein deutscher Spieler? Es gibt prominente Beispiele von Spielern, die sehr hoch in der Weltrangliste standen, und später in die deutsche Rangliste gewechselt sind. Prominenteste Beispiele sind GM Artur Jussupow, ehemalige Nummer 3 der Weltrangliste und GM Vlastimil Hort, der zu seinen besten Zeiten auf Platz 6 der Welt lag. Hier haben wir uns entschieden, die Spieler mit der besten Platzierung zu führen, nachdem sie in die deutsche Rangliste aufgenommen wurden, denn bis dahin haben sie ja eben für Russland oder Tschechien gespielt. Aus diesem Grunde ist Hort ganz aus der Liste gefallen, denn er wechselte erst 1979 nach Deutschland, und danach erst Mitte der 80er Jahre in die deutsche Rangliste, als er schon auf Nummer 40 der Weltrangliste abgerutscht war. und da liegt unsere Erfassungsgrenze.
5. Wie bewertet man einen Spieler gerecht, der kriegsbedingt wenig spielen konnte, und zum Zeitpunkt seines Todes 17 Jahre alt war, weil er im Krieg fiel? Die Rede ist von Klaus Junge, einem der großen deutschen Talente, doch ihn gerecht einzuordnen, fällt schwer! Laut Sonas stand er rechnerisch auf Platz 14 der Welt, doch um dies zu beweisen, hätte er wohl an stark besetzten Turnieren teilnehmen müssen. Wir haben uns hier entschieden, die Listenplatzierung zu übernehmen, bei einer vermuteten Elozahl von 2600 (als Platzhalter).
6. Ein letzter Sonderfall ist die Einbeziehung von Frauen, die in einer eigenen Rangliste geführt werden. Hier haben wir uns aus Gründen der Gleichberechtigung entschieden, die Weltranglistenposition ebenfalls aufzunehmen, denn im Grunde ist es kein geringeres Verdienst, bei den Männern auf Platz 10 der Welt zu stehen (wie GM Keymer) oder selbiges bei den Frauen zu schaffen, wie GM Pähtz. Die Skala ist dann natürlich eine andere, denn als Frau steht man mit Elo über 2500 unter den zehn besten der Welt.
Da die FIDE auf ihrer Ratingseite leider nicht rückwirkend die Elo-Historie bis 1970 aufzeigt, haben wir uns bei der Auswertung der Zahlen an am FIDE Rating Archiv unter https://fidelists.blogspot.com/ orientiert. Damals wurden die Listen nur halbjährlich veröffentlicht.
Nach diesen Vorbemerkungen kommen wir nun endlich zu den Ergebnissen der Auswertung, die in einer Tabelle und darauf aufbauend grafisch ausgewertet wurden.

Hier die Quellen dieser Daten:
a) FIDE Rating Archiv und Statistik für die jüngeren Zahlen und Platzierungen
b) Historisches FIDE Elo-Archiv bis 1970 für die älteren Zahlen und Platzierungen
c) chessmetrics.com für die Weltranglistenplatzierungen der weiter zurückliegenden Historie vor 1970
d) Wikipedia-Einträge zu den besten Elozahlen und Platzierungen der deutschen Spieler vor 1970
Anzumerken ist, dass die Daten nach bestem Wissen und Gewissen erhoben wurden, Fehler aber nie ganz auszuschließen sind.
Interessant ist noch, dass das Durchschnittsalter, in dem die höchste Weltranglistenposition erreicht wurde, im Schnitt bei 30 Jahren liegt.
Das Ganze lässt sich auch übersichtlich in Pyramidenform darstellen:

Es ist keine Überraschung, dass GM Hübner der erfolgreichste Spieler der Nachkriegszeit ist. Allein die vielen Kandidatenkämpfe, an denen er teilgenommen hat, und seine für die damalige Zeit hohen Elozahlen sprechen eine deutliche Sprache.
Doch danach folgen schon unser Supertalente GM Keymer und GM Pähtz, die es beide geschafft haben, sich unter den Top 10 der Welt zu platzieren. Bei Keymer ist kurz einzuschränken, dass er diese Position erst in der Liste zum 1. September 2025 offiziell erhält, also in etwa 2 Wochen. Aber wir gehen mal davon aus, dass er bis dahin seine Elozahl nicht „ruiniert“. Und Elisabeth hat ihre Psoition nur 3 Monate gehalten, aber immerhin. Außerdem ist sie die einzige deutsche Frau mit GM-Titel.
Wie gesagt, ein Sonderfall ist Artur Jussupow, der Anfang der 90er Jahre nach Deutschland kam, und bereits 1994 für die deutsche Nationalmannschaft spielte. Würde man seine beste Zeit in den 80ern mit einrechnen, wäre er auf einem Level mit Hübner.
Auf die weiteren Spieler aus der Liste möchten wir jetzt im Detail nicht weiter eingehen. Die folgende Grafik bildet nun die Platzierungen im historischen Verlauf ab:

In dieser Tabelle ist durch manuelle Nachbearbeitung leider GM Dautov rausgefallen, der in der Region von Lobron und Hertneck zu verorten ist. Wir bedauern dies, aber ohne größere Handarbeit konnten wir den Fehler nicht mehr korrigieren.
Die drei Spieler*innen mit der höchsten Platzierung in der Weltrangliste sind eingerahmt, da die Information sonst entfallen würde.
Was kann man an dieser Auswertung deutlich erkennen?
- GM Keymer hat die mit Abstand höchste Zahl von allen deutschen Spitzenspielern erreicht, auch wenn ihm die Elo-Inflation zuhilfe kam.
- GM Keymer und GM Pähtz sind die „jüngsten“ erfolgreichen deutschen Spieler der Schachgeschichte.
- Das deutsche Schach erlebte ab der zweiten Hälfte der 90er Jahre eine Durststrecke
- Auch die Ostdeutschen konnten in persona GM Uhlmann und GM Knaak gut mithalten. Bei Uhlmann kann die historische Zahl auch höher gelegen haben.
- In den 70er Jahren erlebte das Schach auch in Deutschland einen Aufschwung
Sehr schöne und schwierig zu erstellende Übersicht!
Auch schön, mal wieder von Spielern zu lesen, die ich irgendwie fast „vergessen“ habe, z.B. Eric Lobron.
Bei dem noch fast jugendlichen Alter von Vincent hoffe ich, dass wir ihn eines Tages bei den Kandidaten sehen werden.
Schöne Grüße
Peter
Danke für die Blumen. Allein die Auswertung hat mehrere Stunden beansprucht, und dann musste der Text noch geschrieben werden.
Ein kleiner Hinweis am Rande: Um die Platzierungen in der Frauenweltrangliste zu ermitteln, sind die Elo-Listen auf olimpbase.org hilfreich, da sie a) komplett und b) nach Geschlecht sortierbar sind – auf diese Weise findet man heraus, dass Barbara Hund im Januar 1983 mit einer Elo von 2270 Nr. 9 der Frauen war und Gisela Fischdick im Januar 1979 Nr. 13 der Frauen mit einer Elo von 2260. (Im Bereich der chessmetrics-Wertungen dürften ferner Edith Keller-Hermann und Sonja Graf bei den Frauen relativ weit vorne gelegen haben, aber das lässt sich leider nicht so komfortabel ermitteln, da bei chessmetrics nur die ersten 100 jeder Liste angezeigt werden.)
Arkadij Naiditsch wird nicht erwähnt. Was auch immer man von ihm als Person hält, seine beste Elozahl und Platzierung in der Weltrangliste hatte er als Deutscher (im Dezember 2013 Elo 2737, Platz 18, die letzten 10 Punkte damals von der European Team Championship für Deutschland).
Ich vermute mal, dass ähnliche Artikel in Italien den Italiener Caruana erwähnen würden, in Armenien den Armenier Aronian, und in den Niederlanden Giri auch dann wenn er sich doch wieder für Russland entschieden hätte (was zu Beginn seiner Zeit als 2700+ Spieler mal „drohte“, in einem Interview „St. Petersburg still feels most like home“ – hat sich dann erledigt).
Naiditsch würde die Lücke in der Grafik nach 2000 füllen und das würde auch „GM Keymer hat die mit Abstand höchste Zahl …“ etwas relativieren. Anderswo (nicht auf dem Schachkicker, den gab es da noch nicht) wurde auch erwähnt, als Keymer im Dezember 2023 mit Elo 2738 „erstmals besser als Naiditsch war“.
Natürlich war es bei Naiditsch eine Momentaufnahme, ähnlich wie 2500+ für Elisabeth Pähtz – beide mehrfach in der jeweiligen Region aber nie dauerhaft. Naiditsch hatte noch zweimal 2720+ für Deutschland, pünktlich zu seinem zweiten Verbandswechsel dann 2690 (Zufall oder nicht, reduzierte die von Aserbaidschan fällige Ablösesumme), später nochmals 2730+ für Aserbaidschan. Aktuell sind es für Bulgarien noch 2604 – zuletzt in zwei Opens insgesamt fünf Niederlagen gegen IMs.
Etwas Schadenfreude mag da mitspielen, da auch ich mal von Naiditsch beleidigt wurde, 2011 im Nachgang zu https://www.chess.com/news/view/the-german-aftermath-of-the-european-team-championship (ursprünglich auf Chessvibes veröffentlicht). Ich empfand es dabei eher als eine Art „Ritterschlag“, und einige sagten damals „Thomas, willkommen im Club“.
Nebenbei: Donchenko (2684 im August 2023) und Frederik Svane (im Mai 2025 reichten 2671) erreichten bisher maximal (oder minimal) Platz 52 in der Weltrangliste. Top40 (aktuell braucht man dafür 2686) hätte aber wohl eher keinen Nachrichtenwert, im Gegensatz zu „2700 geknackt“.
Ja da muss ich selbstkritisch einräumen, dass ich GM Naiditsch bei der Erfassung vergessen habe!